Kaffee-Kapitalismus

Ist der Konsum von Kaffee wirklich so harmlos ?

Kaffee-Kapitalismus

Ich kann nicht schlafen

Eines gleich vorweg: Die Datenlage ist erdrückend, der moderate Konsum von Koffein scheint offiziell nicht gesundheitsschädlich zu sein, sogar förderlich (wenn man von dem erhöhten Risiko für Knochenbrüche bei Frauen absieht).

Mein persönlicher Eindruck ist jedoch anders. Wenn ich einen halben Becher Kaffee trinke, spüre ich zwar zunächst eine gefühlte Aufhellung der Stimmung, eine erhöhte Konzentrationsfähigkeit zu langweiligen, repetitiven Tätigkeiten und damit auch auf den ersten Blick eine höhere Produktivität bei der Arbeit. Insbesondere Arbeitnehmer mit befristetem Arbeitsvertrag,Selbstständige und Studenten könnten also das Gefühl haben, sich “dopen” zu müssen, um eine hohe Produktivität zu erreichen. Daher der Titel des Artikels. Was dazu führte, daß ich jahrelang routinemässig bei der Arbeit mindestens 1-2 Tassen (oder halbe Becher) Kaffee konsumiert habe. Die Schattenseite ist jedoch, daß ich spät einschlafe, schlecht schlafe, früh aufwache und am nächsten Tag so müde bin, daß - ja, daß ich erstmal eine Tasse Kaffee brauche, um konzentriert arbeiten zu können.

Womit wir bei einem typischen Merkmal der Abhängigkeit sind. Ein Teufelskreislauf. Wenn ich hart bin, und einen Arbeitstag übermüdet, schlecht gelaunt und unproduktiv überstehe, ohne Kaffee zu trinken, schlafe ich schon früher ein und besser durch, es dauert bei mir jedoch in der Regel fast eine ganze Woche Koffein-Abstinenz, bis ich wirklich wieder richtig gut und erholsam schlafe. Für alle, die das auch mal probieren wollen: Ein Tag ohne Kaffee-Konsum reicht nicht aus, um besser zu schlafen, also haltet durch!

Zudem würde ich meinen, daß ich durch Kaffee größere Stimmungsschwankungen habe. Ohne Koffein bin ich emotional sehr stabil und wenig erregbar. Mit der Tasse Kaffee kommt natürlich zunächst diese wohlige, leichte Euphorie, aber gegen Abend durchaus auch manchmal Durchhänger und Konzentrationsmangel, so daß ich diese kaffeewachen Abende mit nichts Sinnvollem, Produktivem verbringe, leider aber auch noch nicht schlafen kann.

Und bei solch einer Wirkung wird allgemein behauptet, Kaffee hätte keine negativen Folgen ?

Ich kann das nicht glauben. Kaffee-Kapitalismus ist nicht nur eine aufmerksamkeitsheischende Alliteration, sondern natürlich könnte man auch den Verdacht äußern, die wissenschaftlichen Studien über den Kaffee-Konsum seien von Kaffee-Herstellern, Händlern oder coffeeshops gesponsort worden - mit entsprechend gewolltem outcome. Dazu liegen mir keine Daten vor, aber fest steht, die Kaffee-Industrie ist ein Milliarden-Geschäft. In der financial times steht, daß Kaffee-Röstereien 80% des Großhandelspreises bekommen, der Kaffeebauer hingegen nur 10% des Großhandelspreises bekommt (Nestlé ist weltweit die größte Kaffeerösterei, gefolgt von JAB, eine Investmentgesellschaft, die der deutschen Familie Reimann gehört). Der Großhandelspreis wiederum, zu dem ein Café das Kilo geröstete Kaffeebohnen einkauft, macht nur 4% des Preises einer Tasse Kaffee in einem Café aus. Nach Abzug von Ladenmiete, Löhnen, Milch, Einwegbechern bleibt einem Café 10% Gewinnmarge - nach Steuern, wohl gemerkt. 10% Rendite nach Steuern, so viel bekommt man bei keiner vermieteten Eigentumswohnung und auch nicht bei einer Staatsanleihe der BRD. Viele Cafés haben laut des o.a. Artikels begonnen, selbst zu rösten, um ihre Gewinnmarge weiter zu erhöhen.

Umsatz und Gewinn der Kaffee-Industrie wachsen seit Jahren, auch Werbe-Agenturen verdienen mit und sorgen durch einen beworbenen “Kult” mit schönen Café-Latte Bildern, Latté-Art und Werbung für vollautomatische Espresso-Automaten für steigende Umsätze. “Was ? Du hast noch keine eigene Espresso-Maschine zu Hause ?” Dann gehörst Du nicht zur Mittelschicht ! In den Industrienationen gilt es ausserdem einigen als hip oder chiq, mit dem Einweg-Kaffeebecher in der U-Bahn zu sitzen, die Papp-Plastikbecher haben ja auch schön designte Markenlogos aufgedruckt, daran kann man sich gut festhalten. Ich könnte jetzt auch noch einen link einfügen, wieviele Tonnen Plastikmüll entstehen und wieviele Bäume für diese Einwegbecher sterben müssen. Das könnt Ihr selber googlen.

Die Halbwertszeit von Koffein beträgt bei gesunden Erwachsenen im Mittel 4 Stunden, mit einer erheblichen Variation von 2 bis 8 Stunden. Ich bin offenbar jemand, bei dem Koffein langsam verstoffwechselt wird, zähle also eher zu den Leuten mit einer Koffein- Halbwertszeit von 8 Stunden. Das bedeutet, daß, wenn ich morgens um 9 Uhr eine Tasse Kaffee trinke, dann habe ich bei Feierabend um 17 Uhr immernoch die halbe Koffein-Konzentration im Blut. Vier Stunden später, gegen 21 Uhr, habe ich noch circa ein Drittel des Koffeins im Kreislauf und um 1 Uhr morgens habe ich noch ein Viertel des Koffeins im Blut. Und morgens um 9, wenn ich die nächste Tasse Kaffee trinke ? Richtig, dann sind es immer noch 18 der Tasse vom Vortag. Menschen mit 8 Stunden Koffein-Halbwertszeit können Koffein also sogar akkumulieren.

Ich bevorzuge guten Schlaf. Wenn ich mir das Geld für Nestlé-Aktionäre oder für die Reimann-Familie oder für die hippen Café-Dealer spare, muss ich ja auch nicht so produktiv arbeiten und kann auch mal den einen oder anderen Tag müde und schlecht gelaunt bei der Arbeit verbringen. Übrigens verhält es sich mit Koffein so wie bei jeder Droge - man fühlt sich subjektiv so, als könne man sich besser konzentrieren und wäre leistungsfähiger, das trifft evtl. auf simple, repetitive Tätigkeiten sogar auch objektiv zu, jedoch nur kurzzeitig, nie über längere Zeiträume. Die wirklich innovativen Ideen kommen mir jedoch eher ohne Koffein-Dröhnung. Kaffee- nein danke !